Passionsmusik ging den Zuhörern unter die Haut
Herborn (pli/s). Für den Karfreitag hatte die evangelische Kirchengemeinde Herborn eine ungewöhnliche Passionsmusik ausgewählt, die den Besuchern, welche das Schiff der Stadtkirche nahezu vollständig füllten, sichtlich unter die Haut ging.
Die Kantorei, Solisten und ein kleines Orchester führten
am Karfreitag "Membra Jesu Nostri - ein Zyklus von Passionskantaten" in der Herborner Stadtkirche auf.
Die bestens aufgelegte Kantorei, die Solisten Mona Debus (Sopran) und Daniela Debus (Sopran), Angela Schweitzer (Alt), Michael Mey (Tenor) und Andreas Balzer (Baß) sowie das Ensemble "Musica Antiqua" gestalteten die Leidensgeschichte Jesu in sieben Kantaten auf so eindrucksvolle Weise, daß die Zuhörer von Anfang an der Musik und den Texten gebannt lauschten. Die Leitung der einstündigen Veranstaltung lag in den bewährten Händen von Regina Zimmermann-Emde.
Dietrich Buxtehude schrieb unter dem Titel "Membra Jesu Nostri" diese Meditationen, die über die Gliedmaßen Christi (an die Füße, an die Knie, an die Hände, an die Seite, an die Brust, an das Herz, das Angesicht) in den Leidensstunden berichten. Die Texte stammen aus der lateinischen Bibel (Vulgata) und der Rhythmica Oratio Sancti Bernardi, einem Werk, das Bernhard von Clairvaux verfaßte, der um 1090 bis 1153 lebte. Es erstaunt, daß der Protestant Dietrich Buxtehude sich mit einem so schwärmerisch-mystischen Text des Mittelalters befaßt hat.
Es gehört unter den erhaltenen Vokalwerken des Komponisten zu den bedeutendsten, doch gibt es den Zuhörern ein Rätsel auf, weil Text und Anlage ungewöhnlich sind. Auch weiß man nicht, ob es zu Lebzeiten von Buxtehude aufgeführt wurde.
Alle sieben effektvollen Kantaten sind in der Gestaltung vergleichbar. Nach einer instrumentalen Einleitung erklingt eine als Chorsatz oder Terzett gesetzte Vertonung eines Bibelwortes. Dann folgen drei Strophen der Rhytmica oratio in Form von Arien oder Solistenensembles. Meist bauen sie auf der gleichen Baßstimme auf und werden durch instrumentale Zwischenspiele verbunden. Obwohl es um die Leidensgeschichte Jesu geht, sind alle Bibeltexte mit Ausnahme der fünften Kantate dem Alten Testament entnommen. Sie trägt den Titel "Ad pectus" (An die Brust) und beschreibt nicht nur den Körperteil Jesu, sondern steht auch als Sinnbild für den Sitz der göttlichen Liebe und erinnert auch an die nährende weibliche Brust.
Den inbrünstig, sinnlichen Charakter unterstreichen die Bibelworte der Kantaten IV und VI, die dem Hohen Lied entnommen sind und keinen erkennbaren Bezug zu den nachfolgenden Strophen der Rhytmica oratio haben. Ihre Texte sind uns heute fremd geworden, doch die Musik, zu der sie Dietrich Buxtehude motiviert haben, hat die Macht, in besonders anrührender Weise die Zuhörer in ihren Bann zu ziehen und mit ihrer beruhigenden Intensität die Sehnsüchte unserer Zeit aufzunehmen und auszudrücken.
Mit einem groß angelegten Amen-Chor endete das Konzert, und nach einer kurzen Besinnungspause brandete begeisterter Beifall für alle Interpreten auf.
Die Kantorei, die exzellenten Solisten, die immer wieder mit Soli, Duetten, Terzetten und auch Quintetten für besondere Höhepunkte bei der Aufführung sorgten, und das Ensemble "Musica Antiqua" hatten den Besuchern mit dieser expressiven und doch harmonischen Aufführung ein besonderes Ostergeschenk gemacht.
Herborner Tageblatt, 27.3.2005, Foto: Plietzsch